Sonntag, 13. März 2011

ICH und DU - Taub und Stumm

Zwischen Hitler und Merkel liegen 60 Jahre. Die Zeit gönnte den Deutschen 60 Jahre, damit sie sich in Toleranz gegenüber der Andersartigkeit üben konnten.

Eine italienische, eine türkische Familie und ein Grieche lebten in der Nachbarschaft meiner Kindheit. Gastarbeiter. Vor dem Dorf lagerten „Zigeuner“. Gastfreundlich waren sie, die Fremdländer. Geht nicht dorthin, spielt nicht mit ihnen, bleibt im Haus, hieß es. Angeblich würden sie Kinder stehlen. Mir gefiel die Musik, die sie aus ihren Geigen holten. Mir gefiel, dass sie uns in ihren bescheidenen Häusern/Wohnwagen zu essen und zu trinken gaben. Mir gefiel, dass sie uns Kinder freundlich anlachten. In der Schule lernten wir, dass wir unser Blut nicht mit den Schwarzen mischen sollten, der Kinder, die noch zu gebären wären, zuliebe. Damit sie als Bastarde nichts leiden müssten. Das war 1975.

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ sang Franz-Josef Degenhardt 1965. Griechischer Wein sang Udo Jürgens 1974. Neue Gedanken schlichen sich ein in das laute Schweigen aus Fremdenhass. 
War selber ein Schmuddelkind, passte nicht in die Umgebung. Obwohl blond und fast blauäugig, fiel ich auf, sobald sich meinen Mund auftat:
„Esch jrieß se scheen, Herr Pastor!“
Die aufgerissenen Augen, die erstaunten Gesichter, das offene Gelächter stahlen mir das bisschen Sprache, welche mir von meiner ostdeutschen Mutter mitgegeben wurde. Deutsch war nicht gleich Deutsch. Das wissen wir.

Besser stumm sein, stumm bleiben, Schultern schweigend nach oben ziehen, sie nichts sagend wieder fallen lassen. Stumm sein auch, wenn die Diktate zunehmend öfter mit Fünf beurteilt werden. Bei einem Schmuddelkind kann nichts Besseres herauskommen.
Eine ähnliche Situation beschreibt Nicole Engbers in dem Poesie-Album mit einem kleinen Ausschnitt aus der Geschichte Die kleine und die große Spinne (in: Die andere Geschichte, Edition DAB-Verlag Torsten Low). Das Mädchen Uma schüttelt immer nur ihren Kopf, wenn sie ihre Klassenkameraden ansprechen und bleibt stumm. Dafür aber spricht sie mit den Bäumen und den Vögeln in ihrer eigenen Sprache.

Das Poesie-Album ICH und DU lädt Menschen ein, die Barriere der unterschiedlichen Sprachen zu durchbrechen. Es zwingt niemanden, richtiges Deutsch zu sprechen oder zu schreiben. Zwischenmenschliche Poesie mag alle Sprachen. Auch die taubstumme Sprache mag sie.

Das Poesie-Album erzählt die Geschichte Lüdenscheider Café, geschrieben von der Journalistin und Fotografin Monika-Marie Rossa. In ihr teilt sich eine taubstumme Türkin gebärdend mit. Beim Lesen dieser Geschichte fiel mir auf, wie stumm und wie taub füreinander wir durch unseren Alltag gehen. Türken für sich, Afrikaner für sich, Russen für sich, alle in ihren eigenen Gettos. Die Niemandsländer sind noch spezifischer ausgegrenzt. Im Bus schweigen sich die unterschiedlichen Nationalitäten an, haben oftmals nicht einmal ein Lächeln füreinander. Mich erinnert diese Geschichte an Adam, einen Afrikaner meiner jungen Jahre, den ich immer wieder mal in einer Aachener Pinte traf. Er sprach kein Wort Deutsch und trug nie einen Pfennig bei sich. Ich gab ihm regelmäßig einen Drink aus, obwohl ich selber eine Flüchtlings-Arm-Maus war. Gesten der Herzlichkeit verbinden – auch sprachlos.

Wir haben gelernt einander zu tolerieren, rassistischen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Längst gibt es nicht mehr nur Weiße Deutsche. Die Haut der Deutschen hat eine farbenprächtige Vielfalt angenommen durch eine kunterbunte Mischung von Schwarz, Weiß, Gelb, Rot. Das Zeitalter der Toleranz gegenüber der Andersartigkeit des Fremden, welches immer auch ein Gefälle meint zwischen dem ICH und dem DU, geht zu Ende. Globalisierung im Hinblick auf weltweite Nachhaltigkeit fordert die Emanzipation aller Völker. Schonende Nutzung weltweiter Ressourcen für eine nachhaltige Entwicklung der Erde kann nur durch Gerechtigkeit unter den Völkern und gleichberechtigten Lebensgrundlagen für alle Menschen entstehen.

Armut in dieser Welt halbieren bedeutet zwangsläufig den Reichtum halbieren. Vielleicht setzt sich deswegen weltweite Mitmenschlichkeit und Respekt vor Mutter Erde so schwerfällig durch. Die weltweiten apokalyptischen Katastrophen, die bereits nukleare Ausmaße annehmen, lassen keine phlegmatischen Reaktionen, kein gleichgültiges Abwarten mehr zu. Jeder von uns ist herausgefordert, sich verantwortlich zu fühlen und in einen emanzipatorischen Prozess einzusteigen. Das kann jeder an seinem Ort tun, indem er sich für das Mensch-Sein des „Anderen“ interessiert, Brücken baut vom ICH zum DU, Brücken baut vom DU zum ICH und damit Poesie erfindet in der zwischenmenschlichen Begegnung.

Die entscheidende Frage hierzu stellt der Eifeler Lyriker Andreas Züll in seinem Poem
was weiß ich von dir mein bruder:

interessiert es uns wirklich

Ein herzliches Dankeschön an die Mitstreiter/Innen

Nicole Engbers
Torsten Low
Monika-Marie Rossa
Andreas Züll

1 Kommentar:

  1. ... und wenn ich diesen Beitrag lese, dann wünsche ich mir, dass es endlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, in "glückliche" Kinderaugen sehen zu dürfen. In Kinderaugen, die nicht von Kummer, Sorgen, Not, Elend, Katastrophen und Hunger geplagt sind. Ich wünsche mir, dass es verdammt nochmal zur Selbstverständlichkeit wird, dass Eltern sich nicht um ihre Kinder sorgen müssen, weil sie vor Hunger selbst nicht in den Schlaf kommen und "ärztliche Hilfe" so gut wie ein Fremdwort ist. Ich wünsche mir, dass Armut, Luxus und Reichtum auf dieser Welt geteilt werden. Dann wäre sicher Vieles für einige Menschen auf dieser Welt einfacher. "Der Mensch ist in der Lage zu denken", vergisst es jedoch manchmal, wenn es um sein eigenes "Ich" geht. Dann verdrängt er und schaut großzügig über Probleme der anderen hinweg. Allzu schnell wird dann leider "vergessen". Mir ist es egal, welche Hautfarbe die Menschen haben. JEDER, aber auch JEDER sollte ein RECHT auf ein "menschenwürdiges" Leben auf dieser Welt haben. Was bevorzugt mich? Meine "weiße" Hautfarbe, meine "blonden" Haare, mein "Glück", dass ich sehen, hören und sprechen kann? Dieses Glück, dass ich in einem ehemals "geteilten" Deutschland geboren bin? Dieses Glück, dass ich lesen und schreiben gelernt habe? Nein... mich bevorzugt es nicht. Es war wohl einfach nur "Glück". Glück, dass ich jedem Bewohner auf dieser Erde einfach nur wünschen kann. Und trotzdem bin ich nicht in der Lage, dieses Glück einigen Menschen zu verdeutlichen. Leider ist die Menschheit sehr egoistisch. Sie hat eher damit Probleme, wie und wo sie ihren nächsten Urlaub verbringt, wie und wo sie sich ein neues, noch schöneres und größeres Haus baut oder kauft und ein noch größeres und teureres Auto angeschafft wird. Diese Leute schauen längst großzügig über das Elend, dass immer noch auf unserem Erdball herrscht, hinweg. Das sehe ich als "seelische" Armut an. Ich kann die Welt allein nicht verändern, aber vielleicht kann ich zum Nachdenken anregen. Und nicht nur dass... Es wäre mir lieber, wenn ich zur Veränderung anregen könnte. Eine Veränderung in der Denkweise der Menschen, denen es gut geht. Ich identifiziere mich nicht nur mit dem Projekt: Poesiefrühling in Berlin. Ich hoffe und wünsche mir, dass bei den Leuten etwas hängen bleibt. Nämlich der Gedanke, dass wir uns alle an die Hand nehmen, danbar sein und den anderen nicht verstoßen sollten. Danke Marie van Klant

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