Donnerstag, 24. März 2011

ICH und DU – STURMWARNUNG

Danziger ist er – der Günter Grass. Gebürtiger Danziger. Der wird es wissen, wie sich Diktatur anfühlt, Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit. Der hat es mitgemacht, hat viel gesehen. Grass, das ist einer, der hat nachgedacht, hat den Mund aufgemacht, hat aufgeschrieben, schwarz auf weiß. Hat es sogar in die Zwischenzeilen gesetzt, die den interessierten Leser fesselnd umseilen.

Aussuchen habe ich es mir dürfen, das Grass-Gedicht, für das Projekt ICH und DU im Poesiefrühling Berlin 2011. STURMWARNUNG heißt es, das Gedicht, das mich berührte. Es ist immer gut vor Stürmen zu warnen, wenn sie auch gerne überhört werden, die Warnungen. Wie viele Stürme gingen schon hinweg über dieses Land, über diese Erde? Stürme, vor denen gewarnt wurde. Stürme, die durch taube Ohren bliesen. Stürme mit Vorzeichen.

STURMWARNUNG trifft die Sache genau. Grass sagt darin kurz und knapp, was ich denke. Als eine, die für Nachhaltigkeit steht, denke ich viel. Oft fragt mich einer, warum ich mich als Umweltpädagogin mit Migration beschäftige. Da werden meine Augen vor Verwunderung groß wie die leeren Näpfe hungriger Kinder und so fragend wie die der Schildkröten, die, kaum aus dem Ei gekrochen, mit ihrem Leben um die Wette laufen. Wo wir doch alle Natur sind! Zusammengemanscht aus Wasser und aus Staub. Der Grass hat das begriffen. Zwischen Klimastürmen und Menschenstürmen besteht Zusammenhang. Umweltkatastrophen sind Hauptgründe für Migration. Und Menschen setzen Ursachen für Klimastürme.

Wohin wollen wir flüchten, wenn uns ein Sturm erwischt? Berlin, ein sicherer Ort für alle Stürme dieser Welt? Deutschland, ein sicherer Ort für alle Stürme dieser Welt? Jeanette fegte 2002 in Sekundenbruchteilen geliebte Bäume weg. Knickte sie wie Streichhölzer unter Vorschlaghammer. Wohin fliehen, wenn Hagelkörner Häuser totschlagen, weil Frost herrschaftsgeil wird? Wohin fliehen, wenn Feuerwehr ahnungslos, weil Flammen Pipelines rächen? Die Welt beutelt sich durch allerhand Stürme. Feuerstürme, Erdstürme, Wasserstürme, Tsunamis, Orkane, Weiße Stürme, Schwarze Stürme. Wir kennen das. Die meisten Stürme werden vorausberechnet, sind ankündbar. Menschen laufen mit offenen Augen ins Verderben. Axtstürme legen Urwald flach. Wir schauen zu – manchmal sogar mit Interesse.

Wir sind lange nicht mehr bedacht, auf sauberes arisches Blut. Wir geben Aids keine Chance. Wir haben alles im Griff (außer die Dinge, die Grass in 96 Leerzeichen hineinpfercht – weis auf weiß). Wir könnten jetzt aufhören, den Urwald zu fällen und die AKWs abstellen, wenn wir wollten. Da kündigt sich schon wieder rotzfrech ein Sturm an. Gelber Sturm. Die Welt schaut auf Japan, um zu lernen, Erfahrung zu sammeln für die Sicherheit bereits bestehender AKWs. Aber dann, plötzlich, in einem einzigen poetischen Augenblick stehen alle Winde still. Er kann sich nicht entscheiden, der Gelbe Sturm, wohin er will. Man kann sie atmen hören, diese gelbe Unentschlossenheit. Und jeder spürt, diese Welt ist für uns alle verdammt eng geworden.

Mit Mühe und Eigensinn halten wir unsere Grenzen fest. Wo kämen wir hin, wenn sich Reichtum mit Armut mischt? Wo kämen wir hin, wenn Geschundene ihren Lohn einfordern? Wie müssten wir denken, wenn jeder von uns nur ein Weltmensch unter Weltmenschen ist – nichts weiter sonst? Der Gelbe Sturm dreht sich im Kreise. Aber Weltmenschen wissen, radioaktive Strahlen kennen nicht Passport, kennen nicht Visum, kennen nicht Aufenthaltsgenehmigung, klopfen nicht an, um dreist nach Asyl zu fragen.
Wir haben alles im Griff. Immer. Alles ist sicher. Nur die 96 Leerzeichen in Grass’ STURMWARNUNG erscheinen mir unberechenbar. Und auch diese dreizehn Zwischen-den-Zeilen-Berichten machen mir Sorgen.


Meine Dankbarkeit gilt Herrn Günter Grass, Frau Hilke Ohsoling, Herrn Jan Menkens - Steidl Verlag Göttingen.

Sonntag, 13. März 2011

ICH und DU - Taub und Stumm

Zwischen Hitler und Merkel liegen 60 Jahre. Die Zeit gönnte den Deutschen 60 Jahre, damit sie sich in Toleranz gegenüber der Andersartigkeit üben konnten.

Eine italienische, eine türkische Familie und ein Grieche lebten in der Nachbarschaft meiner Kindheit. Gastarbeiter. Vor dem Dorf lagerten „Zigeuner“. Gastfreundlich waren sie, die Fremdländer. Geht nicht dorthin, spielt nicht mit ihnen, bleibt im Haus, hieß es. Angeblich würden sie Kinder stehlen. Mir gefiel die Musik, die sie aus ihren Geigen holten. Mir gefiel, dass sie uns in ihren bescheidenen Häusern/Wohnwagen zu essen und zu trinken gaben. Mir gefiel, dass sie uns Kinder freundlich anlachten. In der Schule lernten wir, dass wir unser Blut nicht mit den Schwarzen mischen sollten, der Kinder, die noch zu gebären wären, zuliebe. Damit sie als Bastarde nichts leiden müssten. Das war 1975.

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ sang Franz-Josef Degenhardt 1965. Griechischer Wein sang Udo Jürgens 1974. Neue Gedanken schlichen sich ein in das laute Schweigen aus Fremdenhass. 
War selber ein Schmuddelkind, passte nicht in die Umgebung. Obwohl blond und fast blauäugig, fiel ich auf, sobald sich meinen Mund auftat:
„Esch jrieß se scheen, Herr Pastor!“
Die aufgerissenen Augen, die erstaunten Gesichter, das offene Gelächter stahlen mir das bisschen Sprache, welche mir von meiner ostdeutschen Mutter mitgegeben wurde. Deutsch war nicht gleich Deutsch. Das wissen wir.

Besser stumm sein, stumm bleiben, Schultern schweigend nach oben ziehen, sie nichts sagend wieder fallen lassen. Stumm sein auch, wenn die Diktate zunehmend öfter mit Fünf beurteilt werden. Bei einem Schmuddelkind kann nichts Besseres herauskommen.
Eine ähnliche Situation beschreibt Nicole Engbers in dem Poesie-Album mit einem kleinen Ausschnitt aus der Geschichte Die kleine und die große Spinne (in: Die andere Geschichte, Edition DAB-Verlag Torsten Low). Das Mädchen Uma schüttelt immer nur ihren Kopf, wenn sie ihre Klassenkameraden ansprechen und bleibt stumm. Dafür aber spricht sie mit den Bäumen und den Vögeln in ihrer eigenen Sprache.

Das Poesie-Album ICH und DU lädt Menschen ein, die Barriere der unterschiedlichen Sprachen zu durchbrechen. Es zwingt niemanden, richtiges Deutsch zu sprechen oder zu schreiben. Zwischenmenschliche Poesie mag alle Sprachen. Auch die taubstumme Sprache mag sie.

Das Poesie-Album erzählt die Geschichte Lüdenscheider Café, geschrieben von der Journalistin und Fotografin Monika-Marie Rossa. In ihr teilt sich eine taubstumme Türkin gebärdend mit. Beim Lesen dieser Geschichte fiel mir auf, wie stumm und wie taub füreinander wir durch unseren Alltag gehen. Türken für sich, Afrikaner für sich, Russen für sich, alle in ihren eigenen Gettos. Die Niemandsländer sind noch spezifischer ausgegrenzt. Im Bus schweigen sich die unterschiedlichen Nationalitäten an, haben oftmals nicht einmal ein Lächeln füreinander. Mich erinnert diese Geschichte an Adam, einen Afrikaner meiner jungen Jahre, den ich immer wieder mal in einer Aachener Pinte traf. Er sprach kein Wort Deutsch und trug nie einen Pfennig bei sich. Ich gab ihm regelmäßig einen Drink aus, obwohl ich selber eine Flüchtlings-Arm-Maus war. Gesten der Herzlichkeit verbinden – auch sprachlos.

Wir haben gelernt einander zu tolerieren, rassistischen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Längst gibt es nicht mehr nur Weiße Deutsche. Die Haut der Deutschen hat eine farbenprächtige Vielfalt angenommen durch eine kunterbunte Mischung von Schwarz, Weiß, Gelb, Rot. Das Zeitalter der Toleranz gegenüber der Andersartigkeit des Fremden, welches immer auch ein Gefälle meint zwischen dem ICH und dem DU, geht zu Ende. Globalisierung im Hinblick auf weltweite Nachhaltigkeit fordert die Emanzipation aller Völker. Schonende Nutzung weltweiter Ressourcen für eine nachhaltige Entwicklung der Erde kann nur durch Gerechtigkeit unter den Völkern und gleichberechtigten Lebensgrundlagen für alle Menschen entstehen.

Armut in dieser Welt halbieren bedeutet zwangsläufig den Reichtum halbieren. Vielleicht setzt sich deswegen weltweite Mitmenschlichkeit und Respekt vor Mutter Erde so schwerfällig durch. Die weltweiten apokalyptischen Katastrophen, die bereits nukleare Ausmaße annehmen, lassen keine phlegmatischen Reaktionen, kein gleichgültiges Abwarten mehr zu. Jeder von uns ist herausgefordert, sich verantwortlich zu fühlen und in einen emanzipatorischen Prozess einzusteigen. Das kann jeder an seinem Ort tun, indem er sich für das Mensch-Sein des „Anderen“ interessiert, Brücken baut vom ICH zum DU, Brücken baut vom DU zum ICH und damit Poesie erfindet in der zwischenmenschlichen Begegnung.

Die entscheidende Frage hierzu stellt der Eifeler Lyriker Andreas Züll in seinem Poem
was weiß ich von dir mein bruder:

interessiert es uns wirklich

Ein herzliches Dankeschön an die Mitstreiter/Innen

Nicole Engbers
Torsten Low
Monika-Marie Rossa
Andreas Züll

Dienstag, 8. März 2011

ICH und DU - ohne Dich

 
Acrylbild  SCHWARZ und WEISS, Weeke Miriam Denise

Die Mitmach-Ausstellung ICH und DU im Berliner Poesie-Frühling ist angelaufen. Das Gemälde "Schwarz und Weiß" zieht die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Auf dem Bild suchen zwei Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gemeinsam nach einem neuen Rhythmus für diese Erde. Das Publikum freut die Idee des dabei liegenden Albums, in dem jeder mit Worten und Bildern poetisch experimentieren darf.


das Mitmach-Poesie-Album ICH und DU

Gleich zu Anfang des Albums findet sich ein Beitrag von Wolfgang Welsch (Schriftsteller, Publizist), der heißt „Ohne Dich“. Bei dieser Überschrift stellte ich mir zunächst vor, wie es ist ohne den anderen zu sein. Wie mager ist unser Leben ohne eine liebevolle Geste an den Nächsten, ohne einen gleichberechtigten Austausch?
Wolfgang Welsch wendet sich in seinem Gedicht an die Gerechtigkeit. Wo bleibt sie, die Gerechtigkeit, auf die so viele Menschen hoffen? Sie, die Gerechtigkeit ist es, die Frieden und Sicherheit schaffen kann. Und doch hält sie sich verborgen. Dieses Gedicht flüstert den gleichen Unterton, den ich auch bei Albrecht Haushofer und Wolfgang Borchert herausfühle. Die stille Klage gegen Diktatur und Folter, der einsame Schmerz im Kampf um die Freiheit, die Zerrissenheit zwischen Hoffnungslosigkeit und Vision für eine bessere Welt. Sein Gedicht ist erschienen in „Klage. Gedichte gegen die Diktatur“ im Schwarzbuch-Archiv Verlag Schwerin, 2000. Welsch weiß wie kaum ein anderer von der Unmenschlichkeit künstlicher Mauern und Grenzen zu berichten. Als Republikflüchtling gefoltert und verurteilt, wurde er vom Westen freigekauft. Er agierte von dort aus als Helfer für DDR-Flüchtlinge, und zwar so erfolgreich, dass ihn die Staatssicherheit der DDR auf ihrer Todesliste ganz oben schrieb. Sein von Ungerechtigkeit und Verrat geprägtes Leben beschreibt Welsch in seinem autobiographischen Buch „Ich war Staatsfeind Nr.1“, ein Buch, welches man zur Gedenkfeier „50 Jahre Berliner Mauer“ gelesen haben sollte.

In dem Album steht dem Gedicht von Welsch ein beeindruckendes Gemälde des jungen afrikanischen Künstlers Département N´dah gegenüber. Es zog bereits im Oktober 2010 in der Ausstellung (Alp)traum Europa, Heilandskirche Berlin-Moabit, das Interesse der Zuschauer auf sich. Das Bild beschreibt die Situation eines Migranten, dem es gelingt, die Mauer, die die Weißen den Schwarzen gegenüber errichtet haben, zu durchbrechen. Voller Zweifel, Einsamkeit, Hoffen und Angst steht er im Niemandsland, an dessen Ende sich die nebelig-graue Silhouette europäischer Hochhäuser zeichnet. Das Bild besticht durch seine lebendigen gelb-orange-roten Farben, die an einen Sonnenaufgang erinnern. Doch scheint die Sonne wirklich für diese Menschen, die ihr Land verlassen müssen, um in der europäischen Fremde eine neue Bleibe zu finden?

Poesie ist der stille Moment, der auch in der Begegnung zwischen den Menschen aktiv sein möchte, in der Mitte von ICH und DU. Dieser Stille Augenblick kann nur in der Mitte von Gerechtigkeit existieren. Gerechtigkeit kennt keine Mauern.

Ich danke Departement N´dah und Wolfgang Welsch für ihre wunderbaren Beiträge zu dem Projekt ICH und DU im Poesie-Frühling Berlin.